Eichendorff – das Marmorbild (1818)
Meine Finger riechen noch nach dem Parfum einer alten Dame, Frau Ringler vermutlich, aus dem Hause Krick im ersten Stock des Bürgerspitals. In meinem Rucksack ist eine kleine Flasche des hauseigenen Weißweins, der mir gekühlt von der Leiterin des Sozialdienstes als kleine Anerkennung meiner Bemühungen überreicht wurde.
Ich habe die alte Dame mit dem Aufzug in ihrem Rollstuhl nach oben gebracht und in ihr Zimmer gefahren. Es war recht sporadisch eingerichtet, eine Vorstufe zum Krankenhaus: Ein langes Bett im Zimmereck, mit einer Kamelldecke, wie mein Papa sagen würde, also einer kratzigen Steppdecke, einer großen, galgenähnlichen Montur zum Aufsetzen und Umrücken im Bett, ein Tisch mit einem geöffneten Essenstablett – ein angebissener, anbraunender Apfel war darauf zu sehen, und gleich im Zimmeranfang ein Bad, das ich von Innen nicht sehen konnte.
Drei Tage habe ich im Juliusspital gelesen. Ich las vor wechselndem Publikum und mit einem Stammpublikum von etwas 3-5 Lesern. Ich erinnere mich noch lächelnd an die erste „Sitzung“ - ich fand mich auf einmal und nicht ohne Angst in einem Raum im Erdgeschoss, eine Art Wohnküche, mit zwei größeren sechseckigen Rundtischgarnituren und etwa zehn älteren Herren und Damen, die mich gespannt, viele im Rollstuhl, musterten. Ich musste laut schreien, und ein geeignetes, langsames Lesetempo finden. Hatte ich meinen Rhythmus dann einmal gefunden, lief es wie von selbst.
Drei Tage waren wir nun abgetaucht in die Phantasiewelt des Deutschen Romantikers Joseph Freiherr von Eichendorff. Er präsentierte uns eine phantastische Story auf knapp 40 Seiten in der Reclamausgabe. Knapp drei Stunden Lesezeit. Manchmal Gedichte oder Gesänge über ein-zwei Seiten, die liesen sich kürzer lesen. Wir begegneten Florio, Fortunato, Donati, der Frau mit dem Blumengesteck, einer Marmorstatue und Pietro, einem alten Herren, einem Oheim und Hausbesitzer. Die Figuren tummeln sich in und um die Gegend bei Lucca in Italien. Eine alte Dame, die sich erst am dritten Tage zu uns gesellt hatte, kam nicht drum herum "Das Schloss kenn' ich. Das ist Schloss Lubowitz bei Ratibor" in die Runde einzustreuen, weil Eichendorff da lebe. Florio macht sich auf die Reise zu sich selbst und gerät in die Fänge der Verführung einer Venus, deren Statue noch in einem Tempel steht. In somnambulen Zuständen schwankend, die erst am Ende aufgelöst werden, als illusionistisches Traumspiel der Göttin Venus, taumelt er von Abendgesellschaft zu Abendgesellschaft und findet sich schließlich, christlich erlöst, auf dem Weg in den sicheren Ehehafen mit seiner zukünftigen Frau Bianka.
Manchmal blitzen wunderschöne, romantische Passagen auf. So habe ich die schönste Beschreibung eines Morgengefühls bei Eichendorff gefunden, die ich bisher gelesen habe.
«Der Morgen», sagte Fortunato lustig, «ist ein recht kerngesunder, wildschöner Gesell, wie er so von den höchsten Bergen in die schlafende Welt hinunterjauchzt und von den Blumen und Bäumen die Tränen schüttelt und wogt und lärmt und singt. Der macht eben nicht sonderlich viel aus den sanften Empfindungen, sondern greift kühl an alle Glieder und lacht einem lange ins Gesicht, wenn man so preßhaft und noch ganz wie in Mondschein getaucht vor ihn hinaustritt.»
Oder:
«Es ist gar seltsam», unterbrach sie ablenkend das Stillschweigen, «so plötzlich aus der lauten Lust in die weite Nacht hinauszutreten. Seht nur, die Wolken gehen oft so schreckhaft wechselnd über den Himmel, daß man wahnsinnig werden müßte, wenn man lange hineinsähe; bald wie ungeheure Mondgebirge mit schwindligen Abgründen und schrecklichen Zacken, ordentlich wie Gesichter, bald wieder wie Drachen, oft plötzlich lange Hälse ausstreckend, und drunter schießt der Fluß heimlich wie eine goldne Schlange durch das Dunkel, das weiße Haus da drüben sieht aus wie ein stilles Marmorbild.»
"Der Fluß, das ist die Oder", kam da wieder von rechts. "Das ist die Oder bei Ratibor". :)
Man darf Eichendorffs Literatur nicht zu ernst nehmen - sie ist poetisch, glänzend, träumerisch und verspielt. Ihr eigentlicher Zweck liegt nicht in der Übermittlung einer Nachricht oder eines Inhalts. Vielmehr ist Eichendorffs Sprache zum Klingen da. Paul Valery sagte, die Sprache im Gedicht pendele zwischen Sinn und Klang. Dies scheint sich auch auf diese Erzählung Eichendorffs übertragen zu lassen. Eichendorffs Erzählung, so scheint es, möchte schwingen, zitiert werden, zum Klingen gebracht werden, wie eine Gitarre, die man anspielt. Eichendorffs Romane sind das Resultat eines Lyriker, der erzählt, Erzähllyrik.
Was mir Persönlich, Triviales übrigbleibt: das Vorlesen hat Spaß gemacht. Enge, düstere Passagen beklemmten das Herz und Eichendorff zeigte mir überraschenderweise Seiten eines Schauerromantiker. Manchmal war ich angespannt, mein Publikum zu überfordern – ist das zu zotisch? Zu laut? Zu leise? Zu langweilig? Zuviel Trouble an einem Tag? Zu verwirren? Zu einwickelnd, zu umgarnend, zu romantisch für meine Zuhörer? Halte ich mich heraus mit meinen Kommentaren? Halte ich mich raus mit einer Interpretation beim Vorlesen und leihe dem Werk nur meine Stimme? Aber dann, am Ende, bekam ich die Dankesworte: "Eichendorff war wieder da. Früher hatten wir ihn gelesen. Jetzt haben Sie Eichendorff wieder nahe gebracht."
Auch im textimmanent überwog für mich das Positive. Nie hielt die Anspannung in schaurigen Passagen lange an und so wurde mir meine Lesefreude erhalten. Immer wieder bricht notwendigerweise eine Heiterkeit in der Erzählung, in der Art des Geschilderten und der Schilderung selbst ein, die einem wieder neuen Lebens- und Lesemut zuträgt. Man wartet auf die gelungenen Passagen. Und manche sind klingende Perlen voll junger Lebenslust, Morgentau, Aufbruchsstimmung, Heiterkeit und Melancholie, Verliebtheit und Schmachtens – das ganze Spektrum der Romantik eben. Man könnte noch sehr viel mehr schreiben. Aber übrig bleibt eine Lektüre, sehr zu empfehlen und inspirierend, Reise- und Wanderlust weckend und aufzeigend, dass Romantische Prosa als Medium sich auch heute noch behaupten kann.
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